Das Bedürfnis, entscheidende Lebenswenden feierlich mit einem Ritual zu begehen, ist auch bei religiösen, aber kirchenkritischen, ja sogar bei säkularen, rein auf innerweltliche Werte ausgerichteten Menschen vorhanden.
Interview vom 17.1.19 : «De Kirche muss auf Wünsche eingehen»
Wenn ein Mensch auf die Welt kommt, von der Welt geht oder wenn ein entscheidender Übergang in eine neue Lebensphase ansteht, dann fragen auch kirchenferne Menschen zur besseren Bewältigung nach einer feierliche Begehung. Doch statt nach einem Gottesdienst wird vermehrt eine neutrale Zeremonie oder ein individuellen Ritual verlangt. Und dies obwohl bei den Betroffenen oft ein persönlicher Glaube oder zumindest fast immer ein religiöser Hintergrund in Form des Bezugs auf eine sogenannte «höhere Macht» vorhanden ist. Was hingegen fehlt, ist ein klares Bekenntnis zum christlichen Gott in der trinitarischen Form als Vater, Sohn und heiliger Geist. Und da Kirchenvertreter zumeist Wert auf solche liturgischen Formeln legen, fehlt bei solchen Feiern immer mehr eine kirchliche Begleitung,
Die Folgen sind gravierend. Als ich vor 20 Jahren ins Pfarramt einstieg, liess sich noch ein Grossteil der Brautpaare kirchlich trauen, heute ist es nur noch ein Bruchteil. Auch Taufen sind in einem hohen Mass zurückgegangen, einzig bei Trauerfeiern sieht es für die Kirchen zur Zeit noch etwas besser aus. Doch was machen die Menschen, die sich von der Kirche abwenden? Sie sorgen dafür, dass ein neues Geschäftsfeld entsteht, das sich Ritualbegleitung nennt: «Überall dort, wo die Kirche früher omnipräsent war und heute nicht mehr sehr gefragt ist, hat sich für diese spezielle Berufsgattung ein neues Feld eröffnet: wenn Menschen zur Welt kommen, heiraten, sterben, wenn sie an Lebenswendepunkten stehen, die traditionsgemäss nach einem Ritual verlangen» (NZZ am Sonntag, 6.4.15). Sogar die Stadt Zürich hat auf ihrer Homepage inzwischen offiziell eine Liste mit freien, nicht kirchlichen «Abdankungs-Redner/innen» aufgeschaltet. > Ritualbegleiter:innen, die auf Wünsche eingehen
Aufschlussreich daran ist: Oft handelt es sich bei den Abwandernden um sogenannte Mischehen resp. –familien. Das heisst: Ein Teil derjenigen, die sich ausserkirchlich rituell begleiten lassen, gehören noch zur Kirche. Warum wählen diese Menschen für ihre Begleitung dennoch keine Pfarrperson? Die Hauptgründe sind: Ausserkirchliche Feiern gelten als persönlicher, der Ort ist frei wählbar und die Religion wird nicht institutionell, sondern individuell berücksichtigt. Die Hauptschwierigkeit liegt also mehr bei der Kirche als einer Institution, die zu wenig auf ihre Mitglieder eingeht, und weniger bei Glauben als Religion, die bei Lebenswenden hilft, einen Halt und eine Orientierung zu finden.
Was ist in den Kirchen zu tun? Die Geister scheiden sich. Sicher ist nur: Wenn sie nichts tun, dann laufen sie «Gefahr, sich ins Abseits zu manövrieren» (NZZ am Sonntag, 6.4.15). Einige Kirchen betonen deshalb umso deutlicher die konfessionelle Ausprägung des Christentums, wie zur Zeit einige römisch-katholische Bistümer oder Freikirchen. Andere, wie die Zürcher Reformierten, suchen nach neuen Ausdrucksformen, sogenannten «Fresh Expressions» des Glaubens. Eine solche Ausdrucksform ist auch das kirchliche Anbieten von Ritualen, denn persönliche Gestaltung, freie Ortswahl und individueller Glaube sind Kennzeichen eines typisch reformierten Glaubens. > Neue Zürcher Kirchenordnung macht's möglich (lifechannel.ch)
Taufe nicht nur im Gemeindegottesdienst
In der Zürcher Kirchensynode fand sich 2018 eine Mehrheit für die Formulierung des Kirchenrates, die den Pfarrerinnen und Pfarrern die Möglichkeit gibt, Taufen in begründeten Fällen auch ausserhalb des Gemeindegottesdienstes vorzunehmen. Eben diese Taufpraxis – auch in Privathäusern und im Kreise der Verwandtschaft und Familien – war im Laufe der Zürcher Kirchengeschichte immer wieder gang und gäbe. Der Mehrwert für die Änderung ist ein Signal der Offenheit gegenüber Taufeltern: > Taufe reformieren (ref.ch) > Auf Konkurrenz reagieren (10vor10 30.7.18)
Mehr Offenheit bei Trauung und Abdankung
Ähnliche Signale einer leichten Flexibilisierung gab die Kirchensynode 2018 auch bei der Ortswahl der Trauungen und der Abdankungen. Pfarrpersonen können auf Wunsch des Brautpaares respektive der Angehörigen die Feier an einem anderen Ort durchführen. Gerade Hochzeiten, Abdankungen oder Taufen sind oft die Nahstellen, bei denen auch kirchenfernere Menschen in Kontakt mit der Kirche kommen. Im vorbereitenden Gespräch bietet sich dann den Pfarrpersonen die Gelegenheit zu zeigen, was der reformierten Kirche wichtig ist und welche Bedeutung den Sakramenten und kirchlichen Handlungen innewohnen: > Lieber in der Natur als in der Kirche (reformiert.net)
Zu einer besonders innovativen Form eines Rituals ist 2015 «Scheidungsrituale» erschienen, das auf meiner Dissertation von 2013 beruht. Bei einer Scheidungsziffer von rund eine Drittel ist es notwendig, dass es auch für diesen lebensgeschichtlichen Übergang ein adäquates, authentisches und effektives Ritual gibt. Das Anliegen sollte die Kirche nicht freien Ritualbegleitern überlassen, sondern selber in seelsorglicher Verantwortung wahrnehmen: > Übersicht Scheidungsrituale